KRANICHE - Ein Kindheitsbild

Die „Kraniche in großem Bogen“ (Brecht) – das ist ein Kindheitsbild aus den Fünfziger Jahren, das mich nie losgelassen hat. Fest eingeschlossen und jederzeit abrufbar trage ich es seitdem in mir.
Wir stehen am Rande des Wesergebirges, auf der kleinen Anhöhe vor der alten Windmühle in Obernkirchen, wohin wir mit unseren Eltern auf den Fahrrädern
gelangt waren.

 

Es ist ein klarer sonniger Herbsttag, die Luft ist noch mild. Der Vater erklärt uns die Mühle und wir schauen weit ins Land hinein: schaumburg-lippische Häuser im heimatlichen Rot der Dachziegel, Kirchtürme, Felder von Heckenumsäumt.

Die Namen der kleinen vor uns liegenden Dörfer werden genannt, meine Gedanken schweifen ab zu den mitgenommenen Butterbroten, die nun gleich ausgepackt werden sollen, als plötzlich durchdringende Schreie die Luft und die Harmonie des Augenblicks zerschneiden:
Da sind sie: Kraniche in hohem Bogen, zuerst als Keile geordnet, dann im wilden Durcheinander des „kreisenden Karussells“, desorientiert und aufgeregt
schreiend! Müde, schwerfällig drehen sie sich umeinander, flattern durcheinander,vielleicht fünf, vielleicht zehn Minuten lang, beraten sich offenkundig, suchen eine günstigere Thermik, formieren sich wieder linienförmig, plötzlich ist die Spitze gefunden und sie fliegen weiter in südwestlicher Richtung. Zuletzt nur noch wie eine winzige Perlenkette, wie hingetupfte Hieroglyphen sichtbar, entschwinden sie unseren Augen im Grau der Wolken, lösen sich einfach auf, fliegen hinüber aus „einem Leben in ein andres Leben…“ (Brecht)
Aber ihre vibrierenden Rufe sind noch lange zu vernehmen und mein Herzschlag pocht in der Halsschlagader, meine Gedanken folgen den ziehenden Kranichen als sich von Nordosten nähernd lauthals die nächsten Gruppen anmelden und rasch über und vor uns den ersten folgen… „Den schönen Himmel mit den Wolken teilend…Im Fluge beieinander liegend… Vom Wind ins Nichts entführt…“(Brecht)
Mehr als fünfundfünfzig Jahre ist diese erste prägende Begegnung mit den Kranichen nun her. Mit dem Umzug aus Lindhorst in Schaumburg-Lippe nach Dortmund ging nicht nur der Verlust von Freunden und Klassenkameraden einher:
Auch der Himmel ließ sich nicht mehr mit den Kranichen teilen. Sie flogen auf anderen Zugwegen zu ihren südlichen Winterrastplätzen. Aus war’s für mich mit der Naturromantik, mit dem Indianern-gleich-durch-die-Wälder-Streifen, Tiere zu belauschen und Pflanzen und Bäume kennen zu lernen. Die freien Jahre der Kindheit waren – was mir noch nicht bewusst war – mit dem Ortswechsel abrupt beendet. Den Blick zu den Wolken versperrten hohe Mietshäuser,mächtige Industrieanlagen und die Umwelt belastende, stinkende Dunstwolke
von Stahlabstichen, Kokereien und Brauereien. Ein Vierteljahrhundert verging, bis ich erstmals wieder Kraniche sah. Es war in Ebergötzen in der Nähe von Göttingen, wo ich damals lebte. Zuerst hörte ich
den lange entbehrten unverwechselbaren Klang der Kranichrufe, wie elektrisiert suchte ich den Himmel ab. Die Schreie wurden lauter und endlich entdeckte ich
eine 60 Vögel umfassende Gruppe, die in westlicher Richtung zog.
In den Folgejahren wurde mir klar, dass ich wieder in einem Flugkorridor derKraniche lebte. Nachts weckten mich ihre Rufe, im Februar und März sah ich
sie eilig nordostwärts streben, zu ihren Brutgebieten in der DDR, Schweden und Norwegen. Und im Oktober und November erblickte ich ihre Silhouetten
in beträchtlicher Höhe am blauen Himmel oder tiefer fliegend unter Regen verhangenen grauen Herbstwolken.
Erst lange nach der Grenzöffnung führte mich der Weg ins Kranichland, an den Bodden in Mecklenburg-Vorpommern. Schon die erste Begegnung mit den
scheuen Großvögeln, die erste Annäherung an die grau-rot Gefiederten Auge in Auge besiegelte das Kindheitsbild. Ästhetik und Aura der Kraniche hatten
mich erneut und endgültig in ihren Bann gezogen.
Durch Kontakte zum „Kranichschutz Deutschland“ und zu Dr. Günter Nowald,dem Leiter des „Kranich-Informationszentrum Groß Mohrdorf“, begannen meine Frau Rosi und ich 2005 damit, als ehrenamtliche Kranich-Ranger bei der Frühjahrsrast und bei der Herbstrast vor Ort in Mecklenburg-Vorpommern zu arbeiten.
Bei Regen, Schnee und Sonnenschein bin ich den Kranichen durch halb Europa gefolgt, um sie in ihren Winterquartieren sowie an ihren Schlaf- und Tanzplätzen
zu beobachten und zu fotografieren. 2006 begann ich damit, mich mit derdigitalen Fototechnik zu beschäftigen.

Seitdem bemühe ich mich, die Anmut und Aura dieser einzigartigen Naturgeschöpfe in Bildern einzufangen.Seitdem bemühe ich mich, die Anmut und Aura dieser einzigartigen Naturgeschöpfe in Bildern einzufangen.